Deutschland – Bundesregierung beschließt das neue Leitentscheidungsverfahren am BGH
Am 16. August 2023 hat die Bundesregierung dem Regierungsentwurf des BMJ zum sog. Leitentscheidungsverfahren (vgl. bereits PHi 2023, 117) zugestimmt. Mit diesem sollen in Massenverfahren grundsätzliche und auf viele Fälle übertragbare Fragen schneller höchstrichterlich entschieden werden können und die Verfahren vor den Instanzgerichten effizienter bearbeitet werden.
So werden bei Massenschadensereignissen (bspw. im Falle unzulässiger Kontogebühren oder „Diesel-Fällen“) gewöhnlich viele Einzelklagen vor den Zivilgerichten erhoben, bei denen sich oft jeweils die gleichen entscheidungserheblichen Rechtsfragen stellen. Eine Vielzahl davon läuft schließlich auch bis zur letzten Instanz durch.
Um dies einzudämmen und nur noch einzelne Fälle in den weiteren Instanzen entscheiden zu müssen, kann der BGH deshalb künftig eines der gleichgelagerten Verfahren, in dem Revision eingelegt wird – möglichst eines mit einem breitem Spektrum an offenen und für die Konstellation typischen Rechtsfragen – zu einem sog. Leitentscheidungsverfahren ernennen können (§ 552b ZPO n. F.). Die Instanzgerichte können bei ihnen anhängige Parallelverfahren mit Zustimmung der Parteien währenddessen aussetzen, § 148 Abs. 4 ZPO n. F.
Eine Entscheidung des BGH über das einmal ausgewählte Leitentscheidungsverfahren bleibt dabei auch dann möglich, wenn sich das Verfahren (etwa durch Rücknahme der Revision oder Vergleich) erledigt, § 565 ZPO n. F.
Deutschland – OLG Stuttgart weist Klimaklage gegen Mercedes zurück
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) ist auch in zweiter Instanz mit dem Versuch gescheitert, den Autobauer Mercedes-Benz zu einem klimagerechten Umbau zu zwingen. Das Stuttgarter Oberlandesgericht (OLG) wies die Berufung der DUH am 9. November 2023 als offensichtlich unbegründet ab (Az. 12 U 170/22) und bestätigte damit ein Urteil des Landgerichts Stuttgart.
Die DUH wollte erreichen, dass Mercedes-Benz ab November 2030 keine herkömmlichen Verbrenner mehr verkauft, damit der Kohlendioxidausstoß im Einklang mit dem Pariser Klimaabkommen und dem deutschen Klimaschutzgesetz verringert wird. Die DUH stützt sich dabei auf den sog. Klimabeschluss vom 24. März 2021 des Bundesverfassungsgerichts (Az. 1 BvR 2656/18 u. a.), aus dem sie ableitet, dass über die mittelbare Drittwirkung von Grundrechten auch privatwirtschaftliche Unternehmen dem verfassungsrechtlichen Klimaschutzauftrag aus Art. 20a Grundgesetz verpflichtet sein.
Das OLG Stuttgart verneinte einen Anspruch aus §§ 12, 862, 1004 BGB analog, da der Autobauer durch das als solches rechtmäßige Inverkehrbringen von Verbrennungsmotoren keinen rechtswidrigen Zustand herbeigeführt habe. Dieser könne allenfalls bei einer mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten gegen Privatunternehmen angenommen werden. Doch selbst wenn man eine solche Drittwirkung annähme – so das OLG Stuttgart – dürfe diese nicht weiter reichen als die Verpflichtung, die sich unmittelbar aus den Grundrechten gegenüber dem Staat ergibt. Dieser Verpflichtung zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen sei der Gesetzgeber jedoch mit seinem Beschluss zum EU-Klimaschutzpaket „Fit für 55“ nachgekommen. In diesem Beschluss ist geregelt, dass in der EU ab dem Jahr 2035 keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor mehr neu zugelassen werden dürfen.
Der Beschluss ist noch nicht rechtskräftig. Die DUH kann beim BGH Nichtzulassungbeschwerde einlegen.
Europa – Mündliche Verhandlung in Klimaschutzklage vor dem EGMR gegen 33 Staaten
Am 27. September 2023 hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine mündliche Verhandlung im Fall Duarte u. a. gegen Portugal und 32 weitere Staaten stattgefunden. Der Fall (Beschwerde-Nr. 39371/20) wurde 2020 von sechs portugiesischen Jugendlichen eingereicht.
Die Antragsteller hatten 2017 erlebt, wie etwa 200 Kilometer nordöstlich von Lissabon große Waldgebiete in Flammen standen, ganze Ortschaften zerstört wurden, mehr als hundert Menschen starben und eine Vielzahl verletzt wurde. Der Vorwurf an Spanien und die anderen beklagten Staaten lautet nun, dass diese bisher keine hinreichenden Schutzmaßnahmen i. V. mit den sich aus dem Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 ergebenden Verpflichtungen ergriffen haben. Sie machen dabei u. a. ihr Recht auf Leben (Art. 2), auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8) sowie das Verbot von Diskriminierung (Art. 14) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geltend. Die beklagten Staaten wendeten gegen die Klage u. a. die mangelnde Erschöpfung des nationalen Rechtswegs ein.
Indes hat der EGMR die Verfahren nicht nur überraschend priorisiert, indem er sie entgegen dieser grundsätzlichen Vorgabe überhaupt zur Entscheidung angenommen hat, sondern das Verfahren auch in der Anzahl der die Kammer besetzenden Richter aufgewertet: Es entscheiden statt der normalen fünf mindestens siebzehn Richterinnen und Richter.
Insgesamt gibt es derzeit nach einem UN-Bericht weltweit mehr als 2.000 Klagen gegen Regierungen und Unternehmen, die zum Ziel haben, den Klimawandel aufzuhalten. Seit 2017 hat sich die Zahl der Klagen dabei verdoppelt.
Europa – Bericht zur neuen Produkthaftungsrichtlinie durch das Europäische Parlament angenommen
Am 10. Oktober 2023 hat der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) und der Rechtsausschuss (JURI) des EU-Parlaments den Berichtsentwurf (Entwurf eines Berichts über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haftung für fehlerhafte Produkte (2022/0302(COD)) zum Vorschlag der neuen Produkthaftungsrichtlinie mit Änderungsanträgen (Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haftung für fehlerhafte Produkte, COM(2022) 495 final) angenommen.
Mit den Änderungen an der Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG sollen die Haftungsregeln an das digitale Zeitalter einschließlich der Entwicklungen im Bereich künstlicher Intelligenz angepasst werden. Ein erster Vorschlag war durch die Europäische Kommission im September 2022 veröffentlicht worden, vgl. PHi 2022, 223 und PHi 2023, 72 ff.
Durch den nun angenommenen Bericht werden insbesondere widerlegliche Vermutungen zum Vorliegen eines fehlerhaften Produkts sowie zum Kausalzusammenhang zwischen seiner Fehlerhaftigkeit und dem eingetretenen Schaden ergänzt, Art. 9 Abs. 3 ProdHaftRL n. F.
Die im Kommissionsvorschlag zunächst einseitig nur gegenüber dem Beklagten vorgesehene Anordnung der Offenlegung der Beweismittel wird erweitert: Eine entsprechende Anordnung soll nun auf Antrag auch gegenüber dem Kläger möglich sein, Art. 8 Abs. 1, Abs. 1a ProdHaftRL n. F.
Ergänzt wurde auch die Verpflichtung der Kommission, eine einfach und öffentlich zugängliche Datenbank zu unterhalten, in der alle rechtskräftigen Urteile der nationalen Gerichte in Verfahren, die gemäß der neuen Richtlinie eingeleitet wurden, sowie andere einschlägige rechtskräftige Entscheidungen im Zusammenhang mit Produkthaftung veröffentlicht werden, Art. 15 Abs. 2 ProdHaftRL n. F.
Nachdem das Parlament seinen Standpunkt zu den überarbeiteten Vorschriften verabschiedet hat, werden nun die Abgeordneten mit den EU-Mitgliedstaaten über die endgültige Ausgestaltung der Gesetzgebung verhandeln.
USA – Tesla gewinnt ersten US-Prozess um tödlichen Unfall mit Autopiloten
Der Elektroautohersteller Tesla hat Ende Oktober 2023 den ersten US-amerikanischen Prozess um die Rolle eines Autopiloten bei einem tödlichen Autounfall gewonnen. Die Geschworenen befanden den Konzern als nicht für den Unfall verantwortlich.
Bei dem Unfall hatte im Jahr 2019 der Tesla eines Mannes nach einem Unfall auf einem Highway Feuer gefangen. Der Fahrer kam ums Leben, zwei Mitfahrer wurden schwer verletzt. Der Anwalt der Hinterbliebenen hatte vor Gericht den Autopiloten für den Vorfall verantwortlich gemacht und USD 400 Mio. Schadensersatz gefordert. Das Assistenzsystem habe „von sich aus“ die Fahrtrichtung gewechselt.
Tesla hatte darauf verwiesen, dass der Fahrer auch bei Nutzung des Autopiloten grundsätzlich stets bereit sein müsse, die Kontrolle zurückzuübernehmen, sollte es zu unvorhergesehenen Ereignissen kommen. Der Konzern sah es im konkreten Fall nicht als bewiesen an, dass der Autopilot überhaupt eingeschaltet gewesen war. Eine solche Richtungsänderung wie hier erfolgt sei, könne nur von einem Menschen im Fahrzeug ausgelöst worden sein.
Dieser Darstellung folgte die Jury, u. a. auch, da die üblicherweise von den Fahrzeugen aufgezeichneten Daten zu Fahrverhalten und aktivierten Systemen im konkreten Fall aufgrund des Feuers am Fahrzeug nicht mehr verfügbar waren.
Weitere siebzehn Verfahren betreffend tödliche Unfälle mit Autopilotenbeteiligung sind gegen Tesla anhängig. Anfang 2024 wird der Fall eines tödlichen Unfalls im Silicon Valley aus dem Jahr 2018 verhandelt werden, bei dem ein Mensch bei einem Zusammenstoß mit einem Betonpoller auf einem Highway ums Leben gekommen war.
Gegen Tesla laufen zudem strafrechtliche Ermittlungen des US-Justizministeriums wegen der Behauptung in Werbematerialien, die Fahrzeuge könnten vollständig selbst fahren. Das US-Justizministerium leitete die bisher geheim gehaltenen Ermittlungen im vergangenen Jahr ein, nachdem es zu mehr als einem Dutzend Unfällen gekommen war, von denen einige tödlich endeten, an denen Teslas Fahrerassistenzsystem „Autopilot“ beteiligt war. Tesla verweist auf seine ausdrücklichen Warnungen an Fahrerinnen und Fahrer, dass sie ihre Hände am Lenkrad lassen und die Kontrolle über ihr Fahrzeug behalten müssen, während sie den Autopiloten benutzen.
USA – Umweltschutzbehörde EPA verabschiedet wichtige neue PFAS-Vorschriften
Im Rahmen ihrer Strategie zur landesweiten Regulierung und Bekämpfung von Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) hat die US-Umweltschutzbehörde EPA (U.S. Environmental Protection Agency) am 28. September 2023 wichtige neue Vorschriften im Rahmen des Toxic Substances Control Act (TSCA) veröffentlicht, die sich auf zahlreiche Interessengruppen in einer Vielzahl von Branchen auswirken dürften, vgl. zu früheren Entwicklungen bereits PHi 2023, 57.
So müssen nach TSCA Abschnitt 8(a) (7) ab dem 13. November 2023 Hersteller und Importeure von PFAS oder PFAS-haltigen Artikeln, die seit dem 1. Januar 2011 PFAS, PFAS-haltige Artikel, PFAS in Mischungen, Nebenprodukten oder als Verunreinigung in beliebiger Menge zu kommerziellen Zwecken (einschließlich Vermarktung sowie Forschung und Entwicklung) hergestellt oder importiert haben, nun Informationen über die Verwendung von PFAS, Produktionsmengen, Entsorgung, Exposition, Gefahren sowie Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen übermitteln.
Nach einer Erweiterung der Definition von PFAS deckt die neue Vorschrift dabei nun etwa 1.462 bekannte TSCA-Stoffe ab, darunter auch Fluorpolymere.
Auch der Umfang der zu übermittelnden Informationen wurde erhöht, zu melden sind nun bspw. auch Informationen zur chemischen Identifizierung der Stoffe, Beschreibung der Nebenprodukte, die bei der Herstellung, Verarbeitung, Verwendung oder Entsorgung der einzelnen Stoffe oder Gemische entstehen, Vorhandene Informationen über Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen und Informationen über Freisetzungen oder Entsorgung. Gleichzeitig werden mit der endgültigen Regelung alle Ausnahmen von der Meldepflicht für gewerbliche Unternehmen abgeschafft. Als Frist für die Meldung ist der 8. Mai 2025 vorgesehen.
Auch die US-Bundesstaaten beteiligen sich zunehmend an der Bekämpfung der „ewigen Chemikalien“, vgl. z. B. PHi 2023, 118 f.; PHi 2023, 145. So hat jüngst am 12. und 13. September 2023 die kalifornische Legislative Gesetzentwürfe zur schrittweisen Abschaffung von PFAS in einer Reihe von Reinigungs-, Haushalts-, Automobil- und Industrieprodukten sowie in Kunstrasen verabschiedet. Wie bei anderen kalifornischen Gesetzen, die sich mit PFAS in Kochgeschirr, Lebensmittelverpackungen und Kinderprodukten befassen, werden auch in diesen Gesetzentwürfen niedrige TOF-Grenzwerte (TOF = Total Organic Fluorine, Gesamtfluorid in organischen und anorganischen Formen) festgelegt.