Die unterschiedlichen Prozentsätze und Beträge ergeben sich nicht nur aus den unterschiedlichen Strukturen der jeweiligen Entschädigungssysteme, sondern auch aus der unterschiedlichen Organisation der Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme der einzelnen Länder.
Von allen Ländern, die Gegenstand der vorliegenden Analyse sind, ist diese Anspruchsart nur in Spanien gesetzlich definiert. Wie bereits erwähnt, ist die Art und Weise, wie der materielle Schaden bewertet wird, einer der wichtigsten Aspekte des reformierten Baremo.
Eine wesentliche Änderung, die mit dem neuen Baremo eingeführt wurde, betrifft die voraussichtlichen Kosten für die künftige Pflege, die der Versicherer direkt an den staatlichen Gesundheitsdienst zahlen muss. Der Geschädigte selbst erhält eine Entschädigung für die Kosten von Prothesen und Orthesen, häuslicher oder ambulanter Pflege, technischen Geräten oder Produkten, die seine Unabhängigkeit ermöglichen, notwendige Veränderungen in der Wohnung und die daraus resultierenden Kosten für die Mobilität (z. B. Umbau eines Autos) und andere Bedürfnisse.
Der Betrag ergibt sich aus der Multiplikation der Kosten für die Pflegeleistungen (das 1,3‑Fache des gesetzlichen Mindestlohns) mit dem Wert für den jeweiligen Geschädigten unter Berücksichtigung folgender Faktoren: Anspruch des Geschädigten auf Hilfe und Pflege durch einen Dritten, Dauer, Alter, Sterberisiko und Diskontierungszinssatz.
Die Entschädigung für den Verdienstausfall wird auf der Grundlage des Nettoeinkommens des Opfers berechnet. Bei minderjährigen Opfern und Opfern, die für den Haushalt verantwortlich sind, wird ein statistischer Durchschnittswert angesetzt. Dieser Wert wird mit einem Koeffizienten multipliziert, der sich aus folgenden Faktoren ergibt: Anspruch des Opfers auf staatliche Beihilfen für die häusliche Pflege, Dauer, Alter, Sterberisiko und Diskontierungszinssatz.
Betrachtet man die anderen fünf Entschädigungssysteme und das Gewicht der wirtschaftlichen Komponente bei der Gesamtschätzung, so fällt sofort die „italienische Besonderheit“ auf, bei der der Anteil der Pflegeleistungen an der Gesamtschätzung 23 % beträgt, während er bei der gleichen Schadenhöhe in den anderen Ländern zwischen 47 % (Deutschland) und 76 % (England) liegt. In Polen macht der Anteil der Pflegekomponente zwar 62 % des Gesamtbetrags aus, dieser ist aber viel niedriger als in den anderen Ländern.
Italien und Polen unterscheiden sich durch einen deutlich niedrigeren Anteil der materiellen Komponente des Schadensersatzes. Der Hauptunterschied liegt darin, dass die künftigen Pflegeleistungen in Deutschland, Frankreich und England – je nach den Bedürfnissen des Geschädigten und den Leistungen des Gesundheitssystems – von staatlichen und privaten Einrichtungen erbracht werden. Daher besteht die Möglichkeit, dem Schädiger im Rahmen der zivilrechtlichen Haftung die gesamte Last aufzuerlegen.
In England haben Anspruchsteller weiterhin das Recht auf Zugang zu staatlich finanzierten Gesundheits- und Pflegediensten, aber es ist nicht erforderlich, dass sie darauf angewiesen sind. Selbst in Fällen, in denen dies zu einer doppelten Ersatzleistung führen würde, sind sie berechtigt, die Kosten für ihre Pflege und andere medizinische Leistungen in vollem Umfang (abhängig von der Haftungsregelung) vom Ersatzpflichtigen zu fordern und dann auf staatlich finanzierte Pflege und Unterstützung zurückzugreifen. Es gibt Ausnahmen, aber in vielen Fällen, insbesondere bei schwerwiegenden Verletzungen, werden sich die Geschädigten auf die staatlich finanzierte Pflege verlassen. Im Wesentlichen werden die Rückstellungen für schwere Verletzungen jedoch ein vollständig privates Pflege- und Therapiesystem berücksichtigen.
Speziell für das englische System zeigt Grafik 7 einen massiven Anstieg der Pflegekosten: Im Vergleich zu 2013, als sich die Pflegekosten auf ca. EUR 6 Mio. beliefen, haben sich die Beträge im Jahr 2022 mit ca. EUR 14 Mio. mehr als verdoppelt.
Dieser Anstieg hat mehrere Gründe. Einer davon sind frühere Gerichtsentscheidungen: In Präzedenzfällen wurden angemessene Stundensätze für die Pflege und die klinische Versorgung festgelegt, aber auch Zahlungen wie Urlaubsgeld für angestellte Pflegekräfte.
Die Rentengesetzgebung im Vereinigten Königreich hat die direkte Beschäftigung von Pflegekräften verteuert, und auch das Case Management von Pflegesystemen wird zunehmend von den Gerichten befürwortet. Zusätzliche Belastungen durch Therapien für Geschädigte, therapeutische Einrichtungen wie Hydrotherapie-Pools und umfangreiche Listen von Geräten/Hilfsmitteln wie elektrische Rollstühle, Exoskelettvorrichtungen und hochentwickelte Betten sind zur Norm geworden, während die damit verbundene Reduzierung der Betreuungskosten von den Gerichten nicht berücksichtigt wird. Trotz einer Fülle von Hilfsmitteln sind doppelte oder sogar dreifache Pflegeprogramme immer häufiger anzutreffen.21
In Italien wird von jeder Kfz-Haftpflichtversicherungsprämie ein Quellenabzug i. H. von 10,5 % zugunsten des staatlichen Gesundheitsdienstes vorgenommen (im Jahr 2020 belief sich der Anteil auf etwa EUR 1,3 Mrd.). Das bedeutet, dass dieser in Zusammenarbeit mit regionalen Behörden und häufig auch mit privaten Unternehmen die meisten der von Schwerverletzten benötigten Hilfsdienste erbringt. Daher wird für die Entschädigung der Kosten künftiger Pflegeleistungen in Italien häufig ein Pauschalbetrag in einem Vergleich ausgehandelt.
Darüber hinaus gibt es weitere Unterschiede zwischen den nationalen Systemen hinsichtlich der Berechnungsmodalitäten für die Kosten der künftigen Pflege und der Art der Auszahlungsweise. In Frankreich gibt es Rahmenvorgaben, die häufig mit den Schadentabellen des jeweiligen Gerichts veröffentlicht werden, und Informationen wie die Mindestanzahl von Tagen oder Stunden zur Gewährleistung einer angemessenen Pflege, die Stundensätze und den Indexierungssatz der Leistung sowie etwaige Diskontierungsfaktoren, die im Fall einer vorzeitigen Kapitalisierung zum Tragen kommen, enthalten.
In den drei Ländern mit den höchsten Pflegekosten werden diese i. d. Regel in Form einer Rente erbracht. Die Berechnung der Rente erfolgt streng nach versicherungsmathematischen Grundsätzen, die es erforderlich machen, dass die Versicherer hohe Rücklagen für künftige Leistungen bilden.
In diesem Zusammenhang sind Periodic Payment Orders (PPOs) – eine Form der rentenbasierten Anpassung – in England und Wales von Bedeutung, wo sie bis 2017 zunehmend Verbreitung fanden. Seit der Diskontierungssatz auf - 0,75 % gesenkt wurde, ist die Anwendung von PPOs jedoch drastisch zurückgegangen.22
PPOs sind Entschädigungszahlungen bei Personenschäden, die nicht nur einen Pauschalbetrag für Schmerzensgeld und vergangene finanzielle Verluste vorsehen, sondern auch regelmäßige indexgebundene Zahlungen für einen Teil oder die gesamten zukünftigen finanziellen Einbußen. In diesem Zusammenhang bestehen Langlebigkeits‑, Inflations- und Volatilitätsrisiken, die vom Geschädigten auf den Schadensersatzpflichtigen und damit auf den Versicherer (und Rückversicherer) übertragen werden.
Ein weiteres wesentliches Element ist die Art und Weise, wie die Pflegeleistungen in einigen dieser Länder bewertet und organisiert werden. Insbesondere im Vereinigten Königreich, in Frankreich und Deutschland werden die Bedürfnisse der Verletzten von Pflegeexperten festgestellt und begutachtet, die alle Aspekte des Bedarfs prüfen, um die bestmögliche Rehabilitation sowie die soziale und berufliche Wiedereingliederung zu gewährleisten.
In Italien hingegen ist dieser umfassende und proaktive Ansatz bei Pflegefällen noch nicht sehr verbreitet. Case Management erweist sich oft als schwierig und komplex, was häufig zu Rechtsstreitigkeiten führt, in deren Verlauf die Auswirkungen der Verletzungen auf das soziale, berufliche und familiäre Umfeld nicht grundlegend geprüft werden. Infolgedessen wird die Notwendigkeit eines angemessenen Managements nicht sorgfältig daraufhin untersucht, welche Leistungen der nationale Gesundheitsdienst und die i. d. Regel beteiligten lokalen Behörden erbringen können.
In Italien erhalten Geschädigte viel Unterstützung durch die Familie, und diese Leistungen werden bis zu einem gewissen Grad als Ersatz der immateriellen Schäden an den Geschädigten und seine engsten Familienangehörigen gezahlt. Während es sich in Italien dabei um eine Ersatzleistung für immaterielle Schäden handelt, wird in Frankreich und Deutschland die Entschädigung für die Kosten der künftigen Pflege fast genauso berechnet und gezahlt wie der Vermögensschaden, auch wenn die Hilfe von einem oder mehreren Familienangehörigen des Geschädigten erbracht wird.
Fazit
Diese vorliegende Untersuchung beleuchtet einige wichtige Punkte, die berücksichtigt werden müssen. Bei tödlichen Verletzungen – abgesehen vom Sonderfall Italien mit seinen hohen immateriellen Schäden, der mit keinem anderen europäischen System vergleichbar ist – ist das Einkommen des Geschädigten und damit der wirtschaftliche Schadensersatzanspruch der Faktor, der die Entschädigung in die Höhe treibt.
Bei schweren Verletzungen haben die Kosten der medizinischen Versorgung und Rehabilitation sowie für die laufende und künftige Betreuung einen großen Einfluss auf die Höhe der Schadensersatzansprüche. In diesem Szenario spielen die Besonderheiten der einzelnen nationalen Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme eine wichtige Rolle, die beim Vergleich der von den jeweiligen Rechtssystemen zuerkannten Beträge stets berücksichtigt werden müssen.
Infolgedessen haben die einzelnen Systeme seit unserer ersten Untersuchung im Jahr 2013 der finanziellen Komponente des Schadens immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass trotz des von der EU bekundeten Willens zur Harmonisierung immer noch große Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern bestehen, die hauptsächlich auf Standardpraktiken, Rechtsvorschriften und die Rechtsprechung zurückzuführen sind. Auch knapp ein Jahrzehnt nach unserer ersten Analyse im Jahr 2013 sind keine relevanten Änderungen in Richtung Harmonisierung zu verzeichnen.
Eine einheitliche oder ähnliche Ausgleichspraxis für alle europäischen Systeme ist aus heutiger Sicht nur schwer vorstellbar. Isolierte Vergleiche einzelner Anspruchspositionen und Aspekte der verschiedenen Entschädigungssysteme führen jedenfalls oft nicht zu einem ausreichenden Verständnis der Zusammenhänge und können dadurch erhebliche Verwirrung stiften.