Letztendlich ist es vielleicht doch nicht so einfach, die Impfrate als reinen Prädikator für die Sterblichkeit bei Influenza oder COVID‑19 anzusetzen. In der Versicherungsbranche waren andere Faktoren ausschlaggebend, von der Sozioökonomie über die Risikoprüfung bis hin zur Altersverteilung.
Nichtsdestotrotz bleiben wir hoffnungsvoll, das während der Spanischen Grippe erreichte Sterblichkeitsniveau durch eine bessere Behandlung und die Vermeidung von Infektionen und Reinfektionen verhindern zu können, indem die Wirksamkeit der Impfstoffe verbessert wird. Die pharmazeutische Industrie wird noch mehrere Jahre lang im Rampenlicht stehen, mit ihrem Ziel, die Auswirkungen der endemischen Situation auf unser Leben zu verringern.
Klinische Unterschiede hinter der Wirksamkeit von Impfstoffen
Die saisonale Grippe gibt es schon seit Langem. Sie ist endemisch und dennoch weiterhin unberechenbar. Ein wesentlicher Unterschied zu SARS‑CoV‑2 besteht darin, dass die Influenza theoretisch mehr Mutationsmöglichkeiten bietet. Als RNA-Virus verfügt SARS‑CoV‑2 über ein Spike-Protein, das sich an einen einzigen ACE-Rezeptor bindet. Aufgrund eines „Korrekturlesemechanismus“ wird erwartet, dass die Mutationsrate im Vergleich zur Influenza relativ niedrig bleibt.21 Künftige Mutationen sind unbekannt, ebenso vieles über die Omikron-Variante. Sie könnte besser übertragbar sein. Wir möchten besser verstehen, wie die IFR und die Reinfektion bzw. ein Ausbruch beeinflusst werden, aber ein Teil der Aufregung wird durch die beträchtliche Anzahl von Mutationen verursacht – zehnmal mehr Mutationen auf dem Spike-Protein als im Vergleich von Delta gegenüber dem Urtyp.22 Mutationen werden jedoch durch einen großen Pool ermöglicht, aus dem diese entspringen können: je höher die Fallrate, desto größer wohl die Wahrscheinlichkeit. In der Zwischenzeit werden wir zwar noch viele Jahre mit einem neuen Coronavirus leben müssen, die Impfstoffe jedoch werden die Übertragung weiterhin in gewissem Maße eindämmen.
Die derzeitigen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die bestehenden Impfstoffe zwar einen geringeren Schutz gegen neu auftretende Varianten bieten, aber immer noch vor schweren Erkrankungen schützen. Obwohl wir also eine Reihe von Mutationen gesehen haben, ist es unwahrscheinlich, dass sie sich so stark ausbreiten werden, dass man nur noch raten kann, ob Impfstoffe gegen die jeweilige Saisonvariante schützen und ob ihre Wirksamkeit gegen schwere Verläufe drastisch abnimmt.
Heutzutage gibt es drei oder mehr Hauptstämme und viele Unterstämme der Grippe, sodass ein Ausschuss von Biologen die Stämme auswählen muss, gegen die der jährliche Impfstoff wirken soll.23 Auch wenn häufige Auffrischungsimpfungen gegen SARS‑CoV‑2 – vielleicht in Verbindung mit einer jährlichen Grippeimpfung, wie es viele Medizinexperten empfehlen – nötig sein könnten, um den Schutz aufrechtzuerhalten und mit den Mutationen Schritt zu halten, könnte es in naher Zukunft nicht zu dem bei der saisonalen Grippe beobachteten „Hit-and-Miss“-Muster bei der Impfung kommen.
Die US‑Daten der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zeigen, dass die Wirksamkeit des Grippeimpfstoffs von Jahr zu Jahr stark schwankt – von unter 20 % bis über 60 %.24 Mutationen von COVID‑19 haben bisher nicht dazu geführt, dass die Fähigkeit des mRNA-Impfstoffs, Krankenhauseinweisungen oder Todesfälle zu verhindern, auf ein Niveau gesunken ist, das diesen CDC-Wirksamkeitsbeobachtungen nahekommt. Vielleicht ist dies ein Grund für die geringe Verbreitung der Grippeimpfung, die weit hinter den WHO-Richtlinien für die Altersgruppe über 65 zurückbleibt – die Öffentlichkeit hält die Grippeimpfung einfach für nicht treffsicher genug.
Andererseits kann die Häufigkeit der Impfung die Inanspruchnahme der Impfung beeinflussen. Anekdoten beschreiben tatsächlich eine höhere Verabreichung der Grippeimpfung in 2020. Optimistisch betrachtet könnten die Impfgewohnheiten bei COVID‑19 und Grippe hoch bleiben bzw. zunehmen – vor allem, wenn sie, wie geplant, in Zukunft gemeinsam verabreicht werden. Es könnte jedoch auch zu einer Rückkehr zu den historischen Impfquoten für die Grippe kommen, was zu einem katastrophalen Jahr 2021 und womöglich auch 2022 hätte führen können, wenn die COVID‑19-Impfquote bei 40 % statt bei 70 % gelegen hätte.
Mittelfristige Auswirkungen auf die Sterblichkeit: Was bedeutet endemisch in der Praxis?
Dieser Artikel befasst sich mit einem Virus, das uns schon viel länger begleitet als SARS‑CoV‑2, um einen Hintergrund für die Überlegungen zu liefern, was es bedeutet, wenn eine weitere Gruppe von Viren endemisch wird. Sicherlich lassen sich die langfristigen Auswirkungen der direkten COVID‑19-Mortalität nicht so einfach als eine zusätzliche saisonale Grippewelle übersetzen. Für die Modellierung der Mortalität müsste man eine Reihe von Kalibrierungen in Betracht ziehen, von denen einige bereits oben untersucht wurden. Eine große Unbekannte bleibt, ob die IFR von COVID‑19 unter den Ungeimpften stabil bleiben wird. Sie ist gegenüber dem ursprünglichen Stamm mit Delta angestiegen. Doch viele Experten haben Grund zu der Annahme, dass die ursprünglichen Stämme in einem stabilen Zustand zu weniger virulenten Stämmen heranreifen. Eine Theorie über den „Weg“ der Spanischen Grippe 1918 lautet, dass sie sich in eine wesentlich weniger virulente saisonale Grippe verwandelt hat – ganz ohne „Zauberstab“ und auch nicht durch eine dauerhafte Herdenimmunität ohne Neuinfektion.25
Letztlich ist die Analogie zur saisonalen Grippe auch eine verhaltensbedingte – sind die öffentlichen Wahrnehmungen über die saisonale Grippe ein Indikator? Das Tragen von Masken und Maßnahmen zur Bekämpfung der saisonalen Grippe gab es in der Vergangenheit, abgesehen von einigen Gebieten in Asien, nicht. Werden nichtmedizinische Maßnahmen und Selbstbeschränkung bei COVID‑19 von Dauer sein?
Statistisch gesehen ist die Analogie eine Frage der Anpassung der Reproduktionszahl (R0). Dies ist wiederum eine Frage von Mutationen und Verhalten. Die zu einem Zeitpunkt t beobachtete Reproduktionszahl (Rt) der gleichen Variante in China ist vermutlich niedriger als in den Niederlanden unter der ungeimpften und anfälligen Bevölkerung. Dies könnte auch in naher Zukunft so bleiben.
Neben dem endemischen Charakter von COVID‑19 selbst beeinflussen viele andere Faktoren die Gesamtmortalität aufgrund sekundärer Auswirkungen der Pandemie. Es gibt Gründe für kurzfristigen Pessimismus, z. B. verzögerte medizinische Behandlungen und versäumte Diagnosen von Krebs und anderen fortschreitenden Krankheiten, die zu einer nicht direkt damit zusammenhängenden Sterblichkeit beitragen. Auf der anderen Seite gibt es Gründe für Optimismus angesichts der beträchtlichen medizinischen Durchbrüche, die während der Pandemie erzielt wurden, und der Möglichkeiten der mRNA-Technologien. Eine weitere Hoffnung könnte angesichts der erheblichen Komorbiditäten, die mit den COVID‑19-Ausgängen verbunden sind, die teilweise Verdrängung anderer Krankheiten sein sowie die sich in der Tat mit der saisonalen Grippe überschneidende Sterblichkeit.
Mit herzlichem Dank an Hanna Speller und Yutaro Kameda für ihre jeweiligen analytischen Beiträge.