Die Corona-Pandemie hat nicht nur das öffentliche Leben seit dem vergangenen Jahr bestimmt und grundlegend verändert, sie hat auch die Versicherungswirtschaft weltweit erheblich belastet. Der mögliche Versicherungsschaden wurde bereits im Frühjahr 2020 als der wohl größte Verlust der Versicherungsgeschichte bezeichnet. In welcher Größenordnung sich dieser letztlich bewegt, wird wohl erst in einigen Jahren verlässlich beurteilt werden können, wenn auch der weltweite volkswirtschaftliche Gesamtschaden beziffert werden kann. Unbestreitbar dürfte sein, dass Versicherer und Rückversicherer – insbesondere diejenigen, die ein internationales Geschäftsmodell haben – die Entwicklungen genau verfolgt haben.1
Im deutschen Markt hat die Betriebsschließungsversicherung, die bisher lediglich eine untergeordnete Rolle gespielt hat, die deutschen Versicherer schadenseitig besonders belastet. Für einen vergleichsweise geringen Beitrag konnten sich Betriebe damit gegen den Schaden absichern, den eine behördlich angeordnete Schließung verursacht.
Nachdem im Zuge der Pandemie auch in Deutschland viele Betriebe wochenlang schließen mussten, machten viele Versicherungsnehmer Ansprüche geltend. Die Versicherer waren jedoch der Auffassung, dass die Betriebsschließungsversicherung nicht für eine Pandemie kalkuliert worden war und sich kein Versicherungsschutz aus den vereinbarten Bedingungen herleiten lasse.
Die Gerichte haben sich in mehreren hundert Prozessen mit den widerstreitenden Interessen auseinandergesetzt. Mit diesem Beitrag soll der Versuch unternommen werden, die unterschiedlichen Bewertungen, die vielfach zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben, strukturiert wiederzugeben, um eine Grundlage für eine etwaige eigene Bewertung zu schaffen.
Die Ausführungen basieren auf der Auswertung von ca. 50 bisher veröffentlichten Urteilen (Stand 1. April 2021). Dem Verfasser ist bekannt, dass die Zahl der Prozesse deutlich höher ist. Einige der Urteile wurden nicht veröffentlicht oder die Prozesse wurden vergleichsweise beigelegt. Im Folgenden werden ausgewählte Entscheidungen betrachtet, die die wesentliche Argumentation der veröffentlichten Entscheidungen insgesamt wiedergeben.
Legislative Grundlagen
Rechtsrahmen für die Schließung von Betrieben auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes (IfSG)
Zweck des Gesetzes ist es, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen (§ 1 Abs. 1 IfSG). Hierzu müssen bestimmte Krankheiten und Krankheitserreger dem Robert Koch‑Institut als der gem. § 4 Abs. 1 IfSG nationalen Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten gemeldet werden. In den §§ 6 und 7 definiert das Gesetz derartige meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger. Durch Verordnung vom 30. Januar 20202 wurde auch das Coronavirus (2019‑nCoV) zur meldepflichtigen Krankheit erklärt und gesetzlich als meldepflichtige Krankheit dem § 6 IfSG hinzugefügt.3
Aufgrund des föderalen Systems in Deutschland obliegt es beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten allein den einzelnen Bundesländern, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Diese können gem. § 32 IfSG durch Rechtsverordnungen entsprechende Ge- und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen und dafür zuständige Behörden benennen. Dies sind zumeist die örtlichen Ordnungsbehörden. Die Bundesländer sind angesichts der epidemischen Lage den ersten Weg gegangen und haben im Wege von Schutzverordnungen die meisten Hotels und Restaurants sowie Handelsgeschäfte und Geschäfte mit körpernahen Dienstleistungen (wie Friseure, Tattoo-, Kosmetik- und Nagelstudios) geschlossen. Die örtlichen Ordnungsbehörden sind insoweit nur das ausführende Organ für die nach den jeweiligen Landesverordnungen angeordneten Maßnahmen.
Versicherungsdeckung nach den Musterbedingungen des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV)
Viele der betroffenen Unternehmen machten in der Folge Ansprüche aus ihrer Betriebsschließungsversicherung geltend. Die meisten Versicherer hatten ihren Bedingungswerken die Musterbedingungen des GDV zugrunde gelegt. Nur wenige Versicherer hatten diese abgeändert. In den Musterbedingungen des GDV hieß es, dass Entschädigung geleistet wird,
„wenn die zuständige Behörde aufgrund des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger den versicherten Betrieb zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen schließt.
Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Klausel sind die folgenden, im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger: …“
(Gefolgt von einer enumerativen Aufzählung der Krankheiten und Krankheitserreger, die auch in §§ 6 und 7 IfSG zu finden ist und in der 2019-nCoV/COVID‑19 nicht enthalten war).
In den Musterbedingungen gab es keinen Epidemie-/Pandemie-Ausschluss.
Bewertung durch die Rechtsprechung
In den Deckungsprozessen, von denen eine Vielzahl vergleichsweise erledigt worden ist, haben sich verschiedene Themenkreise herausgebildet, die im Folgenden dargestellt werden.
Um die aufgetretenen Streitpunkte zukünftig zu vermeiden, hat der GDV zum 1. Januar 2021 neue Musterbedingungen veröffentlicht.4 In diesen Musterbedingungen ist nun auch ein grundsätzlicher Epidemie-/Pandemie-Ausschluss enthalten.5
Betriebsschließung durch Verwaltungsakt
Ist eine Schließung aufgrund einer Rechtsverordnung (im Sinne einer Allgemeinverfügung nach § 35 Satz 2 VwVfG) für die Deckung nach den Bedingungen ausreichend, oder bedarf es eines konkreten, an den Betrieb gerichteten Einzelverwaltungsakts im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG?
Eine explizite Regelung hierzu ist in den Bedingungen nicht zu finden.6 Nach der Rechtsprechung macht es keinen Unterschied, in welcher Rechtsform die Schließungsanordnung erfolgt, denn „in der Allgemeinverfügung und den später erlassenen Verordnungen wird die Schließung rein tatsächlich ‚angeordnet‘“.7
In den neuen Musterbedingungen ist eine entsprechende Klarstellung zu finden.8
Muss die Krankheit im versicherten Betrieb aufgetreten sein?
Das Vorliegen einer sog. intrinsischen Gefahr wird teilweise für eine Deckung als erforderlich angesehen.9 Hierzu haben sich – soweit ersichtlich – bisher nur drei Gerichte geäußert. Während das Landgericht München I dieses Erfordernis ablehnt,10 halten es das OLG Schleswig und das Landgericht Stuttgart für eine Deckung für erforderlich, dass die Krankheit im versicherten Betrieb auftreten müsse, da bereits die Versicherungsbedingungen ausdrücklich auf den „versicherten Betrieb“ abhöben.11
Auch insoweit enthalten die neuen Musterbedingungen einen entsprechenden Ausschluss.12
2019-nCoV/COVID‑19 als versicherte Krankheit/versicherter Krankheitserreger
Nahezu alle Urteile befassen sich mit der Frage, ob 2019-nCoV/COVID‑19 von den Versicherungsbedingungen der jeweiligen Betriebsschließungsversicherung mit umfasst ist. Dies wird nicht nur im Ergebnis sehr unterschiedlich entschieden. Zum einen sind einige Bedingungen im Hinblick auf die aufgelisteten Krankheiten und Krankheitserreger deutlich klarer formuliert als etwa die Musterbedingungen des GDV. Indem z. B. explizit erwähnt wird, dass andere als die in der Auflistung genannten Krankheiten/Krankheitserreger nicht versichert sind13 oder durch den Zusatz des Wortes „nur“14 klar ausgedrückt wird, dass: „meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger … nur die im folgenden … namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger: … [sind]“, wird im Vergleich zu den Musterbedingungen die Deckung bereits semantisch eingeschränkt. In diesen Fällen haben die Gerichte eine Deckung durchgängig abgelehnt.15
Uneinheitlich ist die Rechtsprechung jedoch bei der Bewertung der Musterbedingungen. Teilweise kommen sogar unterschiedliche Kammern desselben Gerichts zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Während teilweise auch insoweit der Wortlaut der Bedingungen dahingehend ausgelegt wird, dass es auch für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer ersichtlich ist, dass die Aufzählung der Krankheiten und Krankheitserreger abschließend sei,16 argumentieren andere Gerichte, dass die Versicherungsbedingungen viel zu komplex seien, als dass es für den rechtlich nicht geschulten Versicherungsnehmer zu erkennen sei, dass bei der Vielzahl der aufgelisteten Krankheiten und Krankheitserregern gerade 2019-nCoV/COVID‑19 ausgeschlossen ist.17 Zudem spreche sowohl die generelle Bezugnahme auf das IfSG und insbesondere die namentliche Nennung der §§ 6 und 7 IfSG, die in § 6 Abs. 1 Nr. 5 und § 7 Abs. 2, Satz 1 IfSG Auffangtatbestände für nicht aufgeführte Krankheiten/Krankheitserreger enthalten, dafür, dass die Liste nicht statisch, sondern dynamisch ist.18
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Urteil, das eine Deckung ablehnte, weil das Coronavirus bzw. SARS‑CoV‑2 als Krankheitserreger erst am 23. Mai 202019 in das IfSG aufgenommen wurde, der geltend gemachte Schadenzeitraum aber davor lag.20
Die neuen Musterbedingungen des GDV sehen (jeweils für die Schaden- bzw. Summenversicherung) Modelle mit dynamischem Verweis mit und ohne Öffnungsklausel vor, wie auch Bedingungen, bei denen die Liste der benannten Krankheiten und Krankheitserreger ausdrücklich abschließend ist.
Teilschließung
Ein weiterer Aspekt, der zwar in vielen Verfahren angesprochen, soweit ersichtlich aber bisher nur einmal entschieden worden ist, ist die Frage, ob auch die Teilschließung eines Betriebs zum Versicherungsfall führt, soweit diese nicht ausdrücklich als mitversichert gilt. Hierzu wird die Auffassung vertreten, dass bereits der Begriff der „Betriebsschließungsversicherung“ nahelege, dass es sich nicht um eine Betriebseinschränkungsversicherung, eine Teilschließungsversicherung oder Ähnliches handelt.21 Es bedurfte auch keiner Entscheidung darüber, ob eine faktische Schließung – also die Fortsetzung eines Betriebs in gänzlich unerheblichem Umfang – grundsätzlich geeignet ist, einen Leistungsanspruch zu begründen, denn eine solche faktische Betriebsschließung lag jedenfalls in diesem Fall nicht vor, da die Klägerin ihren Betrieb in erheblichem Umfang fortsetzen konnte.22
Die Bayerische Lösung
Im Zuge der Auseinandersetzungen über die Deckung der durch die Schließungsanordnungen der Bundesländer infolge der Corona-Pandemie aufgetretenen Schäden haben die bayerische Staatsregierung, der Hotel- und Gaststättenverband DEHOGA Bayern e. V., die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) und verschiedene Versicherer versucht, eine Lösung zu finden, die allen Interessen gerecht wird. Es wurde vereinbart, dass sich die Versicherer bereit erklären, ihren Kunden aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe „… freiwillig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht für die Dauer der vereinbarten Haftzeit eine Zahlung in Höhe von 10 bis 15 Prozent der jeweils vereinbarten Tagesentschädigung anzubieten“.
Davon ausgehend, dass staatliche Hilfsmaßnahmen wie Kurzarbeitergeld und andere Soforthilfen sowie die ersparten Aufwendungen den wirtschaftlichen Schaden eines Unternehmens im Durchschnitt um rund 70 % reduzieren, boten die Versicherer damit den Versicherungsnehmern einen freiwilligen Beitrag in Höhe der Hälfte des verbleibenden Schadens an.
Die beteiligten Versicherer haben in ihren Angeboten an die Versicherungsnehmer ausdrücklich auf die „Bayerische Lösung“ hingewiesen. Die nicht beteiligten Versicherer machten den Versicherungsnehmern – zumeist – ein Vergleichsangebot und legten der Höhe nach den in der „Bayerischen Lösung“ festgelegten Prozentsatz zugrunde (überwiegend ohne Erwähnung der „Bayerischen Lösung“).
Aktuell wird darüber diskutiert, ob diese Vergleichsangebote wirksam waren bzw. ob sie einer rechtlichen Überprüfung standhalten. Bisher hat sich nur ein Urteil mit dieser Fragestellung auseinandergesetzt.23 Es hat die infrage kommenden Vorschriften, die zu einer Unwirksamkeit der Vergleichsvereinbarung führen könnten, ausführlich geprüft und deren Vorliegen verneint. Es sah weder einen Ansatzpunkt für eine arglistige Täuschung nach § 123 BGB,24 einen Erklärungsirrtum nach § 119 BGB25 noch für einen Irrtum über die Vergleichsgrundlage nach § 779 BGB26.
Dagegen wird vorgebracht, dass der Versicherer bösgläubig handle, wenn er seine überlegene Sach- und Rechtskenntnis zum Nachteil des Versicherten ausnutzt.27 Gerichte waren bisher jedoch generell sehr zurückhaltend, Vergleichsvereinbarungen für unwirksam zu erklären: Selbst Vergleichserklärungen im Rahmen der Abwicklung schwerster Personenschäden haben fast immer einer gerichtlichen Überprüfung standgehalten, da sich die Justiz in Deutschland auch dem Schutz der Privatautonomie verpflichtet fühlt (das Recht, seine privaten Rechtsverhältnisse nach eigener Entscheidung zu gestalten, gehört zum allgemeinen Grundsatz der menschlichen Selbstbestimmung und ist durch das Grundgesetz (Art. 1 und 2) geschützt).28
Nach dem im Bürgerlichen Recht geltenden Grundsatz der Privatautonomie ist es den Vertragsparteien im Allgemeinen freigestellt, Leistung und Gegenleistung zu bestimmen; mangels gesetzlicher Vorgaben fehlt es insoweit regelmäßig auch an einem Kontrollmaßstab.29 Diese Grundsätze gelten auch für Vergleichsvereinbarungen.30 Lediglich Nebenabreden, die zwar mittelbare Auswirkungen auf Preis und Leistung haben, aber nicht das Ob und den Umfang der zu erbringenden Leistungen bestimmen, sind einer Inhaltskontrolle unterworfen.31 Aus diesem Grund wurden Vergleichsvereinbarungen bisher nur bei sehr schweren Verstößen gegen geltende Schutzgesetze für unwirksam erklärt.
Wir werden auch weiterhin die Entscheidungen in Deutschland (und in anderen Märkten der Welt) beobachten.